Rede zum 22. Tag der deutschen Einheit
Sehr geehrte Damen und Herren
Bei der Vorbereitung dieser Rede dachte ich an die denkwürdigen Tage zurück, wo letztendlich die Mauer nach einem friedlichen Aufstand namentlich der Bevölkerung der ehemaligen DDR dennoch fiel. Natürlich gingen Umwälzungen in mehreren osteuropäischen Staaten vorher. Gorbatschow hatte mit seiner Politik der Perestroika und Glasnost gewollt oder nicht ein Feuer angezündet, das schließlich zur Befreiung und Demokratisierung des übergroßen Teiles der europäischen kommunistischen Welt führte. Für uns, Niederländer, und noch spezifischer für die Bewohner der Grenzgegend, galt das Interesse vor allem dem, was in der letzten kommunistischen Hochburg, in der DDR, geschehen würde. Es war mehr als ein spannender Film, dessen Ende ungewiss war. Wir hofften selbstverständlich an unserer Seite der Grenze, dass eine erwünschte Umwälzung friedlich wäre, was im Voraus nicht eine unumstößliche Tatsache war. Die Geschichte gab uns diesbezüglich harte und bittere Beispiele.
In der zweiten Hälfte von 1989 bekamen die osteuropäischen Entwicklungen ein atemberaubendes Tempo. Polen und Ungarn, wo schon seit einigen Jahren offen über andere ideologische Prinzipien als die des Marxismus diskutiert und damit experimentiert wurde, machten 1989 endgültige Schritte in Richtung einer pluriformen, demokratischen Staatsform. Polen wurde sogar das erste Ostblockland mit einem nichtkommunistischen Premierminister. Die DDR, die Tschechoslowakei, Rumänien und Bulgarien, ehemalige Bastionen des orthodoxen Kommunismus, wurden 1989 mit solchen Ausbrüchen der Bevölkerungsunzufriedenheit konfrontiert, dass die Regierungselite verscheucht wurde oder erhebliche Konzessionen einwilligten oder, im Falle Rumäniens, den Diktator und seine Frau umbrachten. In allen Fällen verzichteten die kommunistischen Regierungsparteien auf ihre Machtmonopolen und wurden die Prinzipien der freien Marktwirtschaft mehr oder weniger akzeptiert.
Die Entwicklungen in Osteuropa zogen selbstverständlich Wirkungen nach sich, namentlich in Europa. Auch in den Niederlanden war das Interesse für die Ereignisse groß, wobei die in Deutschland am meisten Beachtung fanden. Die Bundesrepublik musste nicht nur einen größeren Anwachs von DDR-Bürgern bewältigen, sondern wurde, in hohem Maße von großen Bürgergruppen unterstützt, ein Fürsprecher der schnellen Wiedervereinigung beider Deutschlande. Nach dem Fall der Mauer am neunten November 1989 wurde die Wiedervereinigung am dritten Oktober 1990, kaum elf Monate später, eine Tatsache.
Die Wiedervereinigung hat viele Zungen in Europa gelöst, nicht zuletzt in den Niederlanden, wo die Erinnerung an die schwarzen Tage des Zweiten Weltkrieges noch immer lebendig waren. Der niederländische Premierminister äußerte seine Besorgnis über eine mögliche deutsche Wiedervereinigung und wurde vom Bundeskanzler Helmuth Kohl, so wie vom französischen Präsidenten François Mitterrand gerügt. Lubbers war schon mal etwas voreilig, aber er verlieh wohl den Gefühlen einer größeren Bevölkerungsgruppe Ausdruck. Er und auch seine Nachfolger haben aber schnell die Uhr mit der restlichen westlichen Welt richtig gestellt und danach gab es keinen größeren Fürsprecher der deutschen Wiedervereinigung als der niederländische Ministerpräsident.
Einige persönliche Eindrücke, die mir bis auf den heutigen Tag klar vor Augen stehen, waren unter anderem die Ankunft der ersten DDR-Bürger in Westberlin in ihren Trabis, die schluchzend vor Freude über die nach vielen Jahren wiedergewonnene Freiheit über die Grenze kamen; ein Gespräch auf einem Campingplatz in Florenz Sommer 1990 mit einem deutschen Professor und seiner Gattin. Sie waren überaus glücklich, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben frei nach der Stadt, in der wir uns befanden, reisen konnten, um alle Kunstschätze dort bewundern zu können. Finanziell ging es ihnen nicht reichlich gut, es war ihnen aber ein großes Bedürfnis, sich alle schönen Sachen in Westeuropa mit eigenen Augen anzuschauen. Ein anderes Moment war die Asylanfrage eines damaligen DDR-Bürgermeisters, geflüchtet noch vor dem Fall der Mauer über die Prager Botschaft in die Niederlande und zwar nach Echt, wo ich Bürgermeister war. Es gelang wunderbar und später sah ich ihn und seine Gattin noch mal im deutschen Fernsehen, wo er seine Story von damals erzählte.
Wie ich schon sagte, auch für uns Niederländer und Bewohner der Grenzgegend waren es spannende und emotionelle Tage. Man spürte an allem, dass die Welt sich ändern würde und man war auch sehr neugierig nach dem Ablauf aller Ereignisse. Meine Frau und ich haben im Frühling nach der Wende die Gelegenheit benutzt, eine Reise nach der damals noch DDR zu machen und zwar nach den Städten Eisenach, Erfurt, Weimar, Leipzig und Dresden, die wir bewunderten. Was mir noch immer gegenwärtig ist, ist der unglaubliche Schutt, den man in mehreren Städten manchmal vorfand. Namentlich die noch immer vorhandenen Trümmer in Dresden beeindruckten uns sehr. Glauben Sie mi, aber, als wir viele Jahre später, 2006 oder 2007, wiederum nach Dresden kamen und die vollends in ihrem alten Glanze wiederhergestellte Frauenkirche bewundern konnten, waren das sehr emotionelle Augenblicke: Das Versinnbildlichen vom Ende vielen Elends für die Bewohner der Stadt und ganz Europa, ausgeschüttet in den schwärzesten Jahre unserer Geschichte.
Es ging der Bundesrepublik in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg schnell besser und schließlich sehr gut. Das wurde ermöglicht durch hartes Schaffen, dazu durch die „Marshallhilfe“ veranlasst. Die Bundesrepublik akzeptierte vernünftigerweise die von Europa ausgestreckte helfende Hand, im Gegensatz zur DDR, die bis zum Ende ihrer Existenz auch davon die sauren Früchte pflücken musste. Nach der Wiedervereinigung ging es den neuen Bundesländern auch immer besser, dank einer enormen finanziellen Kraftanstrengung der Bürger der älteren Bundesländer. Damit gab Deutschland der Welt ein Beispiel: wo der Wille da ist und die Bereitschaft dafür Anstrengungen zu leisten, gibt es immer einen Weg.
Europa ist, trotz manches Murren, froh mit Deutschland, mit der deutschen Demokratie, aber vor allem mit dem deutschen Altruismus, um dort wo es nötig ist, im Rahmen der europäischen Einheit und der wirtschaftlichen Gesundheit Hand anzulegen. Natürlich befinden wir uns noch immer in einer Krise und es ist durchaus schwierig, alle Nasen in die gleiche Richtung zu bekommen. Mit den wirtschaftlichen Wissenschaftlern ist es wie mit den Juristen: Kommen zwei zusammen, gibt es sicher Streit und werden sie sich nicht einig.
Im weltweiten Kampf um Macht und Einfluss verliert Europa schnell an Boden. Dies erfordert eingreifen, aber die Furcht vor Verlust nährt gerade den Populismus und das macht die Probleme nur noch schlimmer. Politische Führer sollten vereinigen, nicht aufwiegeln. Während in Europa überall Pessimismus und Verneinung aufleben, wird unsere Aufmerksamkeit dauernd von den wirklichen Problemen abgelenkt. Sogar der optimistischste Eurobürger ist dann und wann betrübt, wenn von der „Schuldenkrise“ gesprochen wird. Nicht zu leugnen ist, dass Europa nicht länger die erste Stelle in der Welt einnimmt. Auch die Aufmerksamkeit der noch immer mächtigsten Wirtschaft der Welt ist nicht mehr primär auf Europa gerichtet, sondern auf den Fernen Osten. Diese Entwicklung ist bestimmend für die Position Europas in einer Welt, in der viele einzelnen Staaten der europäischen Union ihre Interessen nicht verteidigen und ihre Werte nicht verbreiten können. Wenn wir nicht schnell Maßnahmen ergreifen, können wir unsere Wohlfahrt und Sicherheit nicht mehr beschützen und sind wir den neuen Ökonomien ausgeliefert. Den Niedergang verdanken wir zum größten Teil uns selber. Besonders in Europa ist die Rede von einer Mischung von Dekadenz. Arroganz, poltische Inkompetenz, Überkonsum und dem Eingehen von nicht zu verantwortenden Schulden. Die europäischen Führer haben deswegen eine schwierige Botschaft: Das Ruder muss drastisch herumgeworfen werden, um Frieden und Wohlfahrt zu gewährleisten. Das erfordert Führer, die eine richtungsbestimmende Antwort geben können, die damit eine Brücke zwischen zwei breiten Strömungen in unserer Gesellschaft bauen. Das sind einerseits die Menschen mit einer internationalen Orientierung, jene Menschen, die über die Grenzen hinweg schauen und die Einsicht haben, dass eine Anpassung notwendig ist.
Andrerseits gibt es die Populisten, die auf die Ängste und Empfindungen, die es unter der Bevölkerung gibt, einzugehen versuchen. Dadurch, dass sie Feindbilder schaffen und Zwiespalt säen, versuchen sie in kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht Protektionismus zu fördern. In vielen Ländern wächst namentlich dieser populistische Nationalismus. Den Stachel rauszuziehen ist nicht einfach und wahrscheinlich nur dann möglich, wenn Länder mit einer tief gewurzelten Demokratie die Folgen dieses Populismus zu dämpfen versuchen.
Ein Beispiel, wie man es nicht machen sollte, sehen wir in den Maßnahmen des Präsidenten Hoover der Vereinigten Staaten, als infolge der Depression im vergangenen Jahrhundert alle Dynamik aus der Gesellschaft und der Wirtschaft verschwunden war. Er unterschrieb 1930 den Smoot-Hawley Tarrif Act, wonach Einfuhrgebühren erhoben wurden, anfänglich mit dem Ziel die amerikanischen Bauern gegen die Einfuhr agrarischer Produkte zu schützen. Schon bald erweiterten sich diese Gebühren auf fast alle anderen Sektoren der Wirtschaft. Folglich senkte sich die Einfuhr von Europa von 1,5 Milliarden Dollar auf 400 Millionen und die Ausfuhr nach Europa von etwa 2,5 Milliarden Dollar auf circa 800 Millionen. Dieser Umstand trug dazu bei, dass der Welthandel sich zwischen 1929 und 1934 um etwa 66% senkte.
Wenn wir jetzt zurückkehren nach dem Europa von heute bin ich der Meinung, dass die stärksten Länder in wirtschaftlicher so wie politischer Hinsicht die Initiative ergreifen müssen, uns gegen das gerade erwähnte Unheil zu schützen. Eine führende Rolle für die Bundesrepublik Deutschland ist dabei überdeutlich. Auch unser Land, obwohl sehr viel kleiner, kann in diesem Kräftefeld eine wichtige Rolle spielen, namentlich dadurch, dass es deutlich macht, dass auch die kleineren Länder eine Rolle spielen können. Auch in den Niederlanden wird deshalb der populistische Nationalismus zum Schweigen gebracht werden müssen.
Wie ich schon erwähnte, die Rolle Ihres Landes ist eine ganz wichtige. Deutschland kann diese Rolle auch mit Nachdruck spielen, weil es nach der Wiedervereinigung nur noch ein großes und nicht zu vergessen sehr demokratisches Deutschland gibt. Und das ist von Bedeutung für ganz Europa und nicht zu guter Letzt für Deutschland selber.
Ich möchte mich für Ihre Aufmerksamkeit bedanken und wünsche Ihnen einen festlichen „Tag der Deutschen Einheit“.